Sellita ist neben ETA der wichtigste und bekannteste Hersteller von Uhrwerken. Viele populäre Uhrenmarken wie TAG Heuer, Sinn und Oris vertrauen auf die Kaliber, die in La Chaux-de-Fonds in der Schweiz entwickelt und hergestellt werden. Wir danken Dr. Sébastien Chaulmontet, Innovations- und Marketingleiter von Sellita, der sich bereit erklärt hat, dem Chrono24 Magazin in einem Interview einige Fragen zu beantworten, die SIE über unsere Social Media- und YouTube-Kanäle gestellt haben. Hier erfahren Sie, was Sébastien Chaulmontet zu der Frage sagt, ob die Sellita-Uhrwerke genauso gut sind wie die von ETA und ob die Uhrwerkhersteller voneinander abschauen. Daneben beschreibt der Chronographen-Liebhaber, selbst Besitzer von über 1.000 Uhren, die neuesten Innovationen von Sellita und die Herausforderungen, denen sich sein Unternehmen in der Uhrenwelt von heute stellen muss.
Welche innovativen Uhrentechnologien hat Sellita entwickelt?
Dr. Sébastien Chaulmontet: Sellita ist 70 Jahre alt. Eine vollständige Auflistung aller unserer Patente und Erfindungen würde den Rahmen dieses Interviews sicher sprengen. Das Besondere an Sellita ist jedoch, dass die Erfindungen und Innovationen nicht nur die Uhrwerke selbst betreffen, sondern auch die Produktionsmittel. Eine recht neue Innovation, auf die ich sehr stolz bin, ist unser Flyback-Chronograph mit Säulenrad. Unser Ansatz ist in unserer Branche wirklich einmalig. Der Uhrmacher kann den Gang eines Uhrwerks justieren, nachdem er es mit allen Zeigern in das Gehäuse eingesetzt hat. Das ist sehr praktisch, denn es ermöglicht Anpassungen an bereits laufenden Uhrwerken. Ein häufiges Problem bei mechanischen Chronographen ist, dass man immer gezwungen ist, zwischen Gangreserve und Leichtgängigkeit abzuwägen. Dank unseres Systems kann der Uhrmacher kleine Justierungen vornehmen und das Kaliber an die persönlichen Bedürfnisse des Kunden anpassen.
TAG Heuer verbaut in seiner Uhrenreihe Calibre 9 das Uhrwerk Sellita SW1000.
Warum sind manche Uhrwerke von ETA und Sellita gleich? Hat Sellita bei ETA abgeschaut?
Chaulmontet: Beginnen wir bei der Geschichte, damit wir verstehen, warum manche glauben, Sellita würde ETA kopieren. Unser Unternehmen wurde 1950 gegründet. Damals war ETA ein Bausatz-Hersteller, kein Uhrwerks-Hersteller. Ein Bausatz besteht aus Einzelteilen, und der Käufer muss diese zusammensetzen und zusätzliche Teile, z. B. eine Hemmung, hinzufügen, bevor er den Bausatz in eine Uhr einbauen kann. Ein Uhrwerkshersteller dagegen liefert fertige Kaliber, die ohne weitere Arbeitsschritte in Uhren eingebaut werden können. Vor der Jahrtausendwende stellte ETA Uhrwerks-Bausätze her und Sellita montierte aus diesen Bausätzen fertige Kaliber und verkaufte diese. Dann entschied die Swatch-Gruppe, dass ETA ebenfalls komplett montierte Uhrwerke anbieten sollte. Für Sellita brachte das einige Probleme mit sich. Wir verloren unseren wichtigsten Bausatzzulieferer (ETA), aber uns blieben die Kunden und unser Branchenwissen. Das half uns, unser Geschäftsmodell gründlich zu überholen. Ältere Sellita-Uhrwerke sind demnach keine Kopien von ETA-Kalibern, sondern montierte Produkte aus von ETA gelieferten Teilen. Heute sind wir komplett unabhängig und stellen unsere eigenen Uhrwerke her.
Das Uhrwerk in der Oris Diver 65 basiert auf einem Sellita-Kaliber.
Gibt es Qualitätsunterschiede zwischen Sellita und ETA?
Chaulmontet: Bei der Qualität haben wir ETA so gut wie eingeholt. Aber unsere Kunden dürfen bestellen, was sie möchten – Für welche Qualitätsstufe sie sich entscheiden, liegt nicht in unserer Hand. Wir bieten viele verschiedene Verarbeitungsniveaus. Wer möchte, erhält ein Standardwerk mit etwas schlichterer Verarbeitung, aber unsere Kunden können auch zwischen einigen höherwertigen Modellen wählen. Die Qualität spiegelt sich natürlich im Preis wider. Dass einige Uhren mit etwas einfacher verarbeiteten Sellita-Uhrwerken ausgestattet sind, sagt nichts über die generelle Verarbeitungsqualität unserer Produkte aus. Einige unserer Kunden bestellten früher eher schlichtere Ausführungen, um die Uhrwerke möglichst günstig zu halten.
Stellt Sellita im Hinblick auf die Gangreserve einen Konkurrenten für ETA dar?
Chaulmontet: Wir arbeiten permanent daran, die Gangreserve unserer Kaliber zu verbessern. Das SW300 hat jetzt eine Gangreserve von 56 Stunden statt der früheren 42, und unser Automatik-Chronograph hat jetzt 62 statt 40 Stunden. Wir optimieren unsere Uhrwerke ständig, um die Gangreserve zu maximieren. Die meisten unserer neuen Kaliber haben eine Gangreserve von mindestens 80 Stunden. Darüber hinaus arbeiten wir daran, die Gangreserve unserer Standarduhrwerke (wie das SW200) auf mindestens 62 Stunden zu erhöhen – statt aktuell 40 Stunden.
Wo werden die Sellita-Uhrwerke hergestellt, und wo werden die Uhrmacher in Zukunft sitzen?
Chaulmontet: Sellita stellt seine Produkte in La Chaux-de-Fonds in der Schweiz her. Wir hoffen, dass die Uhrmacherei selbst in der Schweiz bleibt. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass auch die Uhrmacher Schweizer sein müssen. Doch ist die Schweiz in den letzten Jahrzehnten ein wichtiger Uhren-Standort geblieben, im Gegensatz zu vielen anderen Branchen, die in andere Länder abgewandert sind. Es ist uns gelungen, Menschen aus der ganzen Welt zu gewinnen, die für die Uhrmacherei brennen und die Qualität und Werte vergangener Zeiten bewahren wollen.
Eines der beliebtesten Kaliber ist das Powermatic 80 von ETA. Es wird von Hamilton, Tissot und anderen Herstellern verwendet. Plant Sellita ein Uhrwerk mit ähnlichen Eigenschaften wie das Powermatic 80?
Chaulmontet: Die Antwort lautet: ja und nein. Natürlich haben wir mehrere Automatikkaliber im Angebot und wir arbeiten ständig an der Gangreserve unserer Kaliber. Das ETA Powermatic 80 machte Uhren mit langen Gangreserven für Einsteiger erschwinglich. Wir planen jedoch nicht keine Kopie des ETA Powermatic 80 oder etwas Ähnliches. Zwar ist die Gangreserve auch einer unserer Schwerpunkte, aber wir streben eine völlig andere Ästhetik an. Unser Ziel ist es, eine neue Generation von Uhrwerken zu schaffen, die zeigen, wie ein modernes Kaliber aussehen sollte.
Was sind die nächsten Herausforderungen für die Uhrenbranche im Allgemeinen und für Sellita im Besonderen?
Chaulmontet: Die größte Herausforderung besteht darin, unterschiedliche Prioritäten unter einen Hut zu bringen: Einerseits möchten unsere Kunden preisgünstige Uhrwerke. Andererseits bemühen wir uns stets um mehr Qualität, nicht nur bei der Gangreserve, sondern auch im Hinblick auf die Ganggenauigkeit. Darüber hinaus arbeiten wir an nachhaltigeren Produktionsprozessen und daran, mehr zu recyceln. Mann könnte sagen, Innovation ist unser tägliches Geschäft. Wir möchten neue Komplikationen schaffen und die bestehende Technik zuverlässiger machen. Daneben konzentrieren wir uns stark auf die Anwendungssituationen und suchen nach Möglichkeiten zur Lösung branchenweiter Probleme.